Weitermachen. Immer weiter…
Klar, jeder Segelclub hat seinen Vorzeigesegler. Das ist schließlich eine Frage des Selbstverständnisses und ein bisschen stolz auf die eigenen Reihen darf man ja auch sein. In der Segelabteilung des RCR haben wir Jürgen Eiermann – und der nimmt unter den Idolen einen Sonderstatus ein: weil er nicht nur zwischenrein mal ein paar Lorbeeren auf der Regattabahn erringen konnte. Sondern seit Jahrzehnten in verschiedenen Bootsklassen auf nationalem und internationalem Niveau ganz vorne segelt. Und mit seinen sportlichen und ganz persönlichen Erfolgen nicht nur den Jüngsten und Jugendlichen ein Vorbild ist, sondern auch von den etwas älteren Seglern reichlich Respekt und Bewunderung erhält. Doch schön der Reihe nach. Jürgen Eiermann kam im zarten Alter von acht Jahren erstmals mit Booten „in Berührung“ – mit Paddelbooten, um genauer zu sein. Darauf hetzte er gemeinsam mit seinem Bruder hinter den Segelbooten auf dem Goldkanal her, weil denen eigentlich sein besonderes Interesse galt: Wie funktioniert das mit dem Segel und dem Steuer und warum liegen die bei Wind schief? Der Vater wusste zunächst keine Antwort und war dann auch bald von der penetranten Nachfragerei so genervt, dass er über seinen Arbeitskollegen Kleinkopf (damals höchst erfolgreicher 490er- Segler) seinen beiden Jungs Zutritt zur Segelabteilung des RCR verschaffte. Im Gral des nordbadischen Segelsports angekommen, segelten die beiden Eiermänner konsequent gemeinsam auf dem 420er und wurden bald berühmt-berüchtigt wegen … nein, nicht wegen ihrer Regattaerfolge, die hielten sich nämlich sehr in Grenzen. Sondern wegen ihrer konsequenten Starkwind-Segelei – kaum bliesen über den Goldkanal mehr als vier Windstärken, machten die Gebrüder Eiermann ihren 420er flott und heizten über den See. In dieser Zeit entwickelte Jürgen eine innige Beziehung zur … Motorbootabteilung des RCR. Weil die MoBo-Herren während ihrer Wochenend-Frühschoppen immer einen Blick auf die beiden durchgeknallten, herumrasenden 420er-Segler warfen. Und diese regelmäßig mit den Rettungsbooten aus dem Wasser fischten, da sie irgendwann nach der x-ten Kenterung nicht mehr die Kraft hatten, das Boot aufzurichten.
Beste Freunde: Die MoBo-Abteilung
Soweit zum Anekdotischen. Denn danach wurde es ernst mit den Ambitionen des Jürgen Eiermann. Er sei einfach zu schwer geworden für den 420er, erinnert er sich heute. Also befasste er sich gar nicht erst mit Diäten oder sonstigen gewichtsreduzierenden Maßnahmen, sondern wechselte folgerichtig an die Vorschot des Flying Dutchman. Zu einer Bootsklasse, auf der reichlich Ausreitund Trapezgewicht gewisse Vorteile bringen. Diese Erkenntnis in Sachen Körpergewicht sollte Jürgen Eiermann übrigens während seiner gesamten seglerischen Karriere wie ein Motto beibehalten. Nach vier regattaintensiven Jahren am FD-Trapezdraht wechselte Jürgen in die (damals noch olympische) Starboot- Klasse zum Düsseldorfer Steuermann Rolf Beck. Vorhang auf fürs internationale Parkett: Jürgen segelte Weltmeisterschaften vor Rio de Janeiro, Europameisterschaften in Holland, World Cup in Italien, Bacardi- Cup vor Miami, Kieler Woche und und … Ende der Achtzigerjahre entdeckte er schließlich das Einhandsegeln. Zuvor in strategisch-beratender Funktion und mit der nötigen athletischen Energie immer als Vorschoter aktiv, musste sich Jürgen Eiermann nun auf seine ureigenen Steuerkünste, strategischen Entscheidungen und Körperkräfte verlassen. Und genau dieser Mix gelang ihm gelinde gesagt hervorragend!
Es kann nur eine Klasse geben: den Finn
Die erste Bootswahl war dann auch die genau richtige: Im Finn-Dinghy machte Jürgen nicht nur eine gute Figur, sondern weckte Talente, die ihn bald unter die Spitzensegler dieser (bis 2020 olympischen) Bootsklasse brachten. Drei Jahre im baden-württembergischen Kader sorgten für den gewissen Schliff danach Bundeskader in Kiel. Als man von Jürgen jedoch erwartete, dass er in den deutschen Norden für eine bessere Vorbereitung der Olympischen Spiele in Barcelona 1992 umzog, war die Antwort: „Nix da, ich mach einen auf Einzelkämpfer und gleichzeitig auf Familie!“ Was jedoch nicht bedeutete, dass Jürgen sich aus dem Finn-Business zurückzog. Er segelte weiter erfolgreich bei etlichen Welt- und Europameisterschaften, die Kieler Woche sah ihn als Stammgast. Drei Mal war Jürgen Eiermann Deutscher Vizemeister im Finn; wohlgemerkt die mit am härtesten umkämpfte Einhand-Jollenklasse der Welt! Und Hut ab vor Jürgens Sieg bei der Travemünder Woche 2021 und dem drittem Rang bei der Deutschen Meisterschaft 2022 vor Travemünde – als 56-Jähriger! Nebenher segelt Jürgen seit fünf Jahren noch auf dem 5.5er – einer Drei-Personen- Konstruktionsklasse – wo er kürzlich Vizeweltmeister wurde.
Kein Überleben ohne Segeln
Aufmerksame Leser werden sich mittlerweile gefragt haben, was bei den eingangs erwähnten „persönlich Erfolgen“ gemeint war. Es war schlicht der wohl größte Sieg des Jürgen Eiermann gemeint – im Kampf gegen den Krebs. Vor vielen Jahren wurde bei dem mittlerweile zweifachen Vater und dreifachen Großvater Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert. Der zunächst nur schwer in den Griff zu bekommen war. Doch wenn es irgendwie ging, war Jürgen Eiermann auf dem Wasser. „Ohne Segeln hätte ich nicht überlebt!“ lautet seitdem Jürgens Mantra. Und heute, nach einer wiederholten Stammzellentherapie, fühlt er sich buchstäblich wie ein 26-Jähriger. Fit genug, um bei der nächsten Deutschen Meisterschaft im Finn auf dem Leichtwindrevier Bodensee teilzunehmen. Wofür er übrigens 10 kg abnehmen will – zumindest behauptet er das!
Der Opti steht bereit
„Schreib’ bloß keine Lobeshymne“, hat Jürgen dem Autor dieser Zeilen beim Info-Gespräch gesagt. Für ihn sei lediglich wichtig, dass seine Segelkarriere aufzeige, dass man mit Segeln in jedem Alter Erfolge haben kann. Und Segeln als Sportart auch für die nächsten Generationen weiterhin attraktiv bleibe – selbst fern aller Ozeane wie hier am Goldkanal. Und im Übrigen stehe der nagelneue Optimist für seine Enkelkinder schon bereit! Mal ehrlich: Kann sich ein Traditionsverein wie der RCR einen besseren Repräsentanten und Vorzeigesegler wünschen? Eben!
Text: Michael Kunst - MiKu